INTERVIEWS Der Showman hat gelernt, sein Flair mit Effizienz zu verbinden. Seinen größten Gegner, die Einsamkeit, hat er inzwischen hinter sich gelassen. Wir sprachen im Pop-Up-Fanshop auf dem Grand Place in Brüssel mit Nilson Angulo. "Das Alleinsein hat mich stärker gemacht."
Drei Jahre nach seiner Ankunft in Belgien hat Nilson Angulo bei Anderlecht den Durchbruch geschafft. Der 22-jährige Ecuadorianer ist mit fünf Toren und acht Vorlagen eine der Entdeckungen der Saison. Sein Spiel ist schnell, energiegeladen und geradlinig – genau wie die Musik, die auf dem Weg nach Brüssel aus den Lautsprechern dröhnt. Ein Dance-Klassiker aus dem Jahr 1997 erscheint auf Spotify und zaubert uns sofort ein Lächeln ins Gesicht. Der Song klingt wie Angulos heutiges Spiel: hohes Tempo, ohne Bremse. "Ich fühle mich in Belgien endlich zu Hause", wird er später zugeben.
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Weiter lesen Tränen im Appartement
Der Weg zu diesem Gefühl war lang und schwer. "Belgien war völlig anders, als ich es erwartet hatte", erzählte Angulo offen. "Ich war allein, sprach die Sprache nicht, der Fußball lag mir nicht sofort, und ich konnte mich nicht direkt durchsetzen. Das führte zu viel Frustration. Oft habe ich gedacht: ‘Ich bin kein Spieler für Anderlecht.' In meiner Wohnung habe ich auch öfter geweint."
Im Juni 2022 holte der damalige Sportdirektor Peter Verbeke den Flügelspieler als 18-jährigen für 1,8 Millionen Euro von LDU Quito. Eine Investition, die zunächst viele Fragezeichen aufwarf. Angulo hatte noch nie zuvor in Europa gespielt, sprach kein Englisch und musste sich an eine völlig andere Welt gewöhnen.
Die größte Herausforderung war die Einsamkeit. Angulo wuchs in einer Familie mit neun Kindern auf, doch seine Familie konnte wegen Visumproblemen kein einziges Mal nach Belgien reisen. "Das war sehr hart", erklärte er. "Es hat mich mental stärker gemacht, aber ich hätte meine Familie gerne öfter bei mir gehabt."
2026 hofft Anderlecht, seine Mutter und einen Bruder für einige Monate nach Brüssel zu holen. Bisher konnte seine Mutter nur eine Spiel besuchen kommen: das Europapokalspiel gegen Fenerbahçe in Istanbul. "Das war etwas Besonderes. Ich hoffe, dass sie nächstes Jahr auch hier sein können."
Vom Spieler mit sporadischen Aktionen zum Schlüsselspieler
Auf dem Grand Place in Brüssel hat Angulo erst einmal eine andere Aufgabe: Unterschriften verteilen. Lange vor seiner Ankunft sehen wir bereits eine lange Schlange. Als er erscheint – mit einer auffällig blonden Frisur – gehen die Smartphones sofort in die Luft. "Ich habe mir die Haare für die Feiertage blond färben lassen", lachte er. "Meine Teamkollegen haben mich natürlich damit aufgezogen. Sie sagten, dass ich nun wie ein Belgier aussehen möchte."
Die Stimmung in der Kabine ist gut und das zeigt sich auch auf dem Platz. Während Angulo in den vergangenen Jahren vor allem eingewechselt wurde und nur selten seine Klasse zeigen konnte, ist er nun zu einer festen Größe geworden. "Ich werde auch öfter auf der Straße erkannt", sagte er. "Das ist eine schöne Belohnung für all die harte Arbeit."
Unter dem früheren Trainer Brian Riemer wurde sein Talent zwar gesehen, doch der Ertrag blieb aus. Angulo bekam wenig Spielzeit und musste vor allem Geduld üben. Erst unter Besnik Hasi kam der eigentliche Durchbruch. "Ich nehme Riemer aber nichts übel", betonte er. "Ich musste einen Lernprozess durchlaufen. Am Anfang mochte ich Verteidigen nicht. Jetzt verstehe ich, wie wichtig das für die Mannschaft ist."
Vertrauen von Hasi
Hasi brachte Disziplin, Klarheit und Volumen in sein Spiel. "Der Trainer sagt immer noch oft, dass ich zu viel fürs Publikum spiele", lachte Angulo. "Er wird wütend, wenn ich zu viel Risiko bei meinen Dribblings eingehe. Keine Show um der Show willen. Aber ich spüre sein Vertrauen. Er pusht mich und erklärt genau, wie ich am nützlichsten sein kann."
Diese Entwicklung machte aus Angulo einen modernen Flügelspieler. Defensiv klappt es manchmal noch nicht so gut, doch offensiv ist er entscheidend: fünf Treffer, acht Vorlagen und eine konstante Gefahr. Sein Marktwert stieg auf 7 Millionen Euro und er hat kürzlich auch schon einen verbesserten Vertrag bis 2029 unterschrieben.
Sogar eine gebrochene Hand – nach seinem entscheidenden Treffer gegen Union – hielt ihn nicht auf. "Dieses Tor war sehr wichtig", sagte er. "Sogar noch wichtiger als mein Distanzschuss gegen Westerlo. Mir wurde klar, wie wichtig dieses Derby für den Verein war."
Kein Führerschein, aber große Träume
Nach mehr als einer Stunde Selfies und Unterschriften ist die Signierstunde beendet. Pressechef Mathias Declercq bringt Angulo nach Hause, denn sein ecuadorianischer Führerschein ist in Belgien nicht gültig. Auto fahren wird vorerst also nichts. "Ich müsste hier alle Prüfungen neu ablegen. Das geht natürlich nicht sofort", lachte er.
Die Frage ist, wie lange Anderlecht ihn noch halten kann. Ausländische Vereine verfolgen seine Entwicklung und kommenden Sommer steht auch die WM an. Ecuador befindet sich in einer Gruppe mit Deutschland, Curaçao und der Elfenbeinküste – eine perfekte Bühne. "Ich höre immer Gerüchte über Spanien oder sogar Liverpool", sagte Angulo. "Aber solange mein Berater nichts sagt, bleibe ich ruhig. Ich bin völlig fokussiert auf Anderlecht. Ich möchte diesem Verein etwas zurückgeben für die Geduld, die sie mir entgegengebracht haben."
Sein schönstes Länderspiel bisher? Gegen Brasilien, mit seiner Familie auf der Tribüne. "Ich traute mich nicht, Vinícius Junior anzusprechen, aber ich bekam sein Trikot. Das hängt nun eingerahmt bei meiner Mutter zu Hause."
Zurück nach Hause
Zuerst steht aber noch das letzte Ligaspiel von 2025 gegen Charleroi an. Danach fliegt Angulo sofort nach Ecuador, um Neujahr bei seiner Familie zu feiern. "Es ist vor allem ein fröhliches Wiedersehen", sagte er.
Wenn wir wieder nach Hause fahren, erklingt erneut dieses Lied aus den Lautsprechern am Brüssel–Zaventem-Flughafen. Wenn Nilson Angulo seinen Aufstieg fortsetzten kann, könnte dies seine letzte Weihnachtszeit in Belgien sein.